Der Ingenieur
Und am Schreibtisch entdeckt er zwischen all den notwendigen Strichen die er machen musste, um die passenden Formen und Figuren zu finden, auch jene Skizzen für ein "als ob" oder "als wer" und "als wenn". Und so verließ er schon mal den Pfad des Erfindens und der Funktion und glitt hinab in die Rolle eines Entdeckers und der Fiktion.
Hatte er den Stift mit der Absicht geführt zwei geometrische Körper zu einer Einheit zu verbinden, so geriet ihm eben jene verdichtenden Ansammlung von Linien verlockend arabesque. Die stenge Linie wich bald der geschwungenen und bald zerfiel alles Raumbildende in einer Flut des körperlichen und allzu fleischlicher Öffnungen - in einer Sturzflut von Strichen eines sich ergebenden Stiftes und aus dem "als ob" der Bilderflut erwuchs bald schon das "als wer", indem der Ingenieur einem Rumpf einen Kopf verpasste, welcher diese oder jene Persönlichkeit portraitierte, die ihm mehr oder weniger bekannt war. Einmal in dieser Welt gefangen (einer Welt kopulierender Striche) begann der Entdecker erneut das Erfinden und ersann unendliche Verbindungen zwischen Mann und Frau, Frau und Frau, Mann und Mann und allen erdenklichen, erfundenen, vergessenen Gegenständen. Je nach Lust und Laune bemühte er dann auch mal mittelalterliche Zitate, in denen Bestiarien ein Sittenbild ihrer Zeit abbildeten und kritisierten, wie sie gleichermaßen die Phantasie ihrer Schöpfer, der Mönche in den klösterlichen Skriptorien illustrierten. In dieser Stimmung - mahnend und mit moralischer Last bedacht - setzte der Ingenieur nicht selten sein eigenes Konterfei auf die nackten Körper. Dabei unterschied er nicht zwischen den drängenden männlichen und den sich schamlos räkelnden weiblichen Körpern. Mal schuf er aus dem eigenen schäl und schief daher blickenden Selbstportrait den Hocker für das breite, ausladend Gesäß einer Urmutter der Lust. Er lies sich nicht alleine in dieser Hölle der Begierden darben. Neben ihm fanden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Platz: Politiker, Schauspieler, gesellschaftliche Eintagsfliegen, Priester jeden Glaubens. - Vor allem aber Propheten größerer Wahrheiten und ihre Adepten. Diese schonte er so wenig wie sich selbst. Und da es der größeren Wahrheiten zu allen Zeiten schon unzählige gegeben hatte, so sollten auch die Propheten dieser Tage unzählige sein und aus allem eine große Wahrheit machen, gleich wie klein auch ihr Denken war.
Einen baute der Ingenieur kunstvoll in die Eichel eines etwas kümmerlichen Phallus ein, dessen "Mund" eine dieser "Wahrheiten" auf den blanken Schenkel einer wahrhaftigen Frau spie. Die Frau aber ist abgewandt und achtet den lauen Pfropfen nicht. Sie wendet sich üppigen Blumen und Gärten zu, die sich aus den wirren Spuren auf dem Papier befreien.
Hatte er den Stift mit der Absicht geführt zwei geometrische Körper zu einer Einheit zu verbinden, so geriet ihm eben jene verdichtenden Ansammlung von Linien verlockend arabesque. Die stenge Linie wich bald der geschwungenen und bald zerfiel alles Raumbildende in einer Flut des körperlichen und allzu fleischlicher Öffnungen - in einer Sturzflut von Strichen eines sich ergebenden Stiftes und aus dem "als ob" der Bilderflut erwuchs bald schon das "als wer", indem der Ingenieur einem Rumpf einen Kopf verpasste, welcher diese oder jene Persönlichkeit portraitierte, die ihm mehr oder weniger bekannt war. Einmal in dieser Welt gefangen (einer Welt kopulierender Striche) begann der Entdecker erneut das Erfinden und ersann unendliche Verbindungen zwischen Mann und Frau, Frau und Frau, Mann und Mann und allen erdenklichen, erfundenen, vergessenen Gegenständen. Je nach Lust und Laune bemühte er dann auch mal mittelalterliche Zitate, in denen Bestiarien ein Sittenbild ihrer Zeit abbildeten und kritisierten, wie sie gleichermaßen die Phantasie ihrer Schöpfer, der Mönche in den klösterlichen Skriptorien illustrierten. In dieser Stimmung - mahnend und mit moralischer Last bedacht - setzte der Ingenieur nicht selten sein eigenes Konterfei auf die nackten Körper. Dabei unterschied er nicht zwischen den drängenden männlichen und den sich schamlos räkelnden weiblichen Körpern. Mal schuf er aus dem eigenen schäl und schief daher blickenden Selbstportrait den Hocker für das breite, ausladend Gesäß einer Urmutter der Lust. Er lies sich nicht alleine in dieser Hölle der Begierden darben. Neben ihm fanden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Platz: Politiker, Schauspieler, gesellschaftliche Eintagsfliegen, Priester jeden Glaubens. - Vor allem aber Propheten größerer Wahrheiten und ihre Adepten. Diese schonte er so wenig wie sich selbst. Und da es der größeren Wahrheiten zu allen Zeiten schon unzählige gegeben hatte, so sollten auch die Propheten dieser Tage unzählige sein und aus allem eine große Wahrheit machen, gleich wie klein auch ihr Denken war.
Einen baute der Ingenieur kunstvoll in die Eichel eines etwas kümmerlichen Phallus ein, dessen "Mund" eine dieser "Wahrheiten" auf den blanken Schenkel einer wahrhaftigen Frau spie. Die Frau aber ist abgewandt und achtet den lauen Pfropfen nicht. Sie wendet sich üppigen Blumen und Gärten zu, die sich aus den wirren Spuren auf dem Papier befreien.
Karl Gumbricht - 20. Mai, 14:28