Werkraum.Prosa

Dienstag, 20. Mai 2008

Der Ingenieur

Und am Schreibtisch entdeckt er zwischen all den notwendigen Strichen die er machen musste, um die passenden Formen und Figuren zu finden, auch jene Skizzen für ein "als ob" oder "als wer" und "als wenn". Und so verließ er schon mal den Pfad des Erfindens und der Funktion und glitt hinab in die Rolle eines Entdeckers und der Fiktion.
Hatte er den Stift mit der Absicht geführt zwei geometrische Körper zu einer Einheit zu verbinden, so geriet ihm eben jene verdichtenden Ansammlung von Linien verlockend arabesque. Die stenge Linie wich bald der geschwungenen und bald zerfiel alles Raumbildende in einer Flut des körperlichen und allzu fleischlicher Öffnungen - in einer Sturzflut von Strichen eines sich ergebenden Stiftes und aus dem "als ob" der Bilderflut erwuchs bald schon das "als wer", indem der Ingenieur einem Rumpf einen Kopf verpasste, welcher diese oder jene Persönlichkeit portraitierte, die ihm mehr oder weniger bekannt war. Einmal in dieser Welt gefangen (einer Welt kopulierender Striche) begann der Entdecker erneut das Erfinden und ersann unendliche Verbindungen zwischen Mann und Frau, Frau und Frau, Mann und Mann und allen erdenklichen, erfundenen, vergessenen Gegenständen. Je nach Lust und Laune bemühte er dann auch mal mittelalterliche Zitate, in denen Bestiarien ein Sittenbild ihrer Zeit abbildeten und kritisierten, wie sie gleichermaßen die Phantasie ihrer Schöpfer, der Mönche in den klösterlichen Skriptorien illustrierten. In dieser Stimmung - mahnend und mit moralischer Last bedacht - setzte der Ingenieur nicht selten sein eigenes Konterfei auf die nackten Körper. Dabei unterschied er nicht zwischen den drängenden männlichen und den sich schamlos räkelnden weiblichen Körpern. Mal schuf er aus dem eigenen schäl und schief daher blickenden Selbstportrait den Hocker für das breite, ausladend Gesäß einer Urmutter der Lust. Er lies sich nicht alleine in dieser Hölle der Begierden darben. Neben ihm fanden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Platz: Politiker, Schauspieler, gesellschaftliche Eintagsfliegen, Priester jeden Glaubens. - Vor allem aber Propheten größerer Wahrheiten und ihre Adepten. Diese schonte er so wenig wie sich selbst. Und da es der größeren Wahrheiten zu allen Zeiten schon unzählige gegeben hatte, so sollten auch die Propheten dieser Tage unzählige sein und aus allem eine große Wahrheit machen, gleich wie klein auch ihr Denken war.
Einen baute der Ingenieur kunstvoll in die Eichel eines etwas kümmerlichen Phallus ein, dessen "Mund" eine dieser "Wahrheiten" auf den blanken Schenkel einer wahrhaftigen Frau spie. Die Frau aber ist abgewandt und achtet den lauen Pfropfen nicht. Sie wendet sich üppigen Blumen und Gärten zu, die sich aus den wirren Spuren auf dem Papier befreien.

Donnerstag, 22. November 2007

Das kann nicht ich sein


Kennst du den Kerl der vorgibt ich zu sein? Das Haar dunkel, kurz geschnitten, einfach nur geschnitten - ohne dieses hin her, dieser Mischung aus Dienstleitung und Kunstgewerbe, die man ihm heute andrehen wollte, bei dem neuen Friseur um die Ecke, wo er hin, weil so ein Bon im Briefkasten lag: Schneiden, Waschen, Legen für 8.90 – Kennenlernpreis. Am Ende hat er 18 Sachen hingelegt, war raus und wollte nie mehr wieder kommen. Wie hat der gequatscht, der coole Hairdresser, mit den Scheren geklappert und gedrängt. Schlussendlich sagte der, der ich ist: „Wissen sie was: Konservativ! Einfach nur kurz – ich bin kein junger Hüpfer mehr.“ Danach haben alle geschwiegen. Der ich bin aber hat leise gelächelt und sich im Spiegel betrachtet – dabei erkannt, dass er zu den Jungen nicht mehr gehört, gleichwohl er sich in der Zeit nicht so schnell verloren hatte wie andere - aber von Weisheit keine Spur. Sein Blick weicht sich nicht aus. Er, das Ich, sie blicken sich fest an und halten sich aus. Dunkle, braune Augen mit einem unbestimmten Ernst in der Spannung des Augenblicks.

Die eine Hälfte des Gesichts im Schatten die andere im Licht. Und dann noch die Zitate des Widersprüchlichen - sowohl auf der dunklen wie auf der hellen Seite. Da ist auf der Wölbung zwischen Lid und Braue inmitten des Schattens eine Insel des Lichts. Über die Nase mit ihrem weichen Schwung zieht sich eine mit Pigmenten gepflasterte Straße und das Auge wird durch dunkle Schatten gerahmt. Das Kinn blieb für zwei Tage unrasiert und die Stoppeln führen hin zum Hals, der der Müdigkeit stand hält und sich streckt um der Details willen; denn hat er das Ich erstmal entdeckt, dann ist es wie ein gutes Gespräch unter Freunden – man kann nicht davon lassen zu hören, wie es dem anderen geht - und natürlich zu behaupten es ginge einem Selbst ganz wunderbar. Nicht mehr der Jüngste zwar - nicht mehr jung und noch nicht alt -, aber ach, was soll man schon sagen; und dann drückt man sich die Sorgen auf die Stirn und fragt sich selbst, wieder im Stillen: Was habe ich denn schon erreicht? Die Pupillen überzieht eine sämige Müdigkeit. Das kann ich nicht sein.




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